Tugend und Lust: Kein Gegensatz

Materieller Besitz, finanzieller Reichtum und Ausleben körperlicher Begierden scheinen unverzichtbar zum Glücklichsein in heutiger Zeit zu sein. Alles was Lust verschafft oder dieser dient, könnte man auch sagen. Früher war das vermeintlich anders. Askese, Freigiebigkeit und Keuschheit wurden da eher angepriesen und unter dem Namen Tugend propagiert. Doch weit gefehlt. Weder ist unter Tugend ausschließlich eine solch selbstlose Gesinnung gemeint, noch wird durch diese systematisch jegliche Lust torpediert, wie anhand von drei antiken Vertretern der Tugend leicht gezeigt werden kann.

Alles im Gleichgewicht bei Aristoteles

Mit Tugenden wird üblicherweise der griechische Philosoph Aristoteles (384-322 v. Chr.) in Verbindung gebracht. Dies geschieht zu Recht, denn wenn er auch die Idee der Tugend nicht in die Welt brachte, so arbeitete er in seinem Werk Nikomachische Ethik als erster tiefgründig deren Wesen heraus und entwickelte ein umfassendes System an Einzeltugenden. Nach Aristoteles sind Tugenden gewohnheitsmäßig an den Tag gelegte Verhaltensweisen, die am vorzüglichsten sind. Vorzügliches menschenspezifisches Handeln sei solches, wenn es vernunftgeleitet sei und die Vernunft dabei auf vollkommenste Weise walte und schalte. Dies sei der Fall, wenn sie die richtige Mitte für die Handlung bestimme, wodurch die durch das Handeln angestrebten oder beanspruchten Güter bestmöglich angeeignet oder erhalten würden. Güter seien aber etwas, was man gut heiße, und gut gehießen werde das, was Lust verschaffe. Höchstes menschliches Gut sei die Glückseligkeit und auf diese zielten sodann letztlich alle Tugenden ab. Ungeachtet dessen, welches konkrete Lustgefühl sich beim Erreichen der Glückseligkeit tatsächlich einstellt, so unterliegen Tugenden lustvoll gedeuteten Zwecken, die eben nur aufgrund ihrer Lusterbringung überhaupt angestrebt würden. Indem nun maßvoll vorgegangen werde, würde das Bezweckte erreicht bzw. erhalten und nicht zerstört, was Unlust bringen würde. Kein Widerspruch zwischen Tugend und Lust soweit erkennbar.

Keine Lust ohne Tugend bei Epikur

Nicht gerade eines tadellosen Rufs hinsichtlich der Tugendhaftigkeit erfreuen sich die auf Epikur (341-270 v. Chr.) berufenden Hedonisten. Sie gelten manchen als die ungezügelten Genießer fleischlicher Lüste schlechthin, die auf der anderen Seite ängstlich jeglicher Unlust aus dem Weg gehen. In ihrem Namen steckt zwar unabweisbar viel Lust, soweit Hedone die lateinische Transkription für das altgriechische Wort für Lust ist. Doch diese durch die Gegner des Hedonismus in die Welt gesetzte Darstellung ist überzeichnet und falsch. Das fängt damit an, dass auch geistige Lüste wie Lektüre von Dichtkunst oder das Philosophieren von Epikureern, wie die Anhänger Epikurs auch genannt werden, sehr hoch gehalten werden. Noch gravierender ist das Verkennen des mäßigen Charakters der Lustauslebung. Die Mäßigung rührt ausdrücklich vom Bekenntnis zur Tugend hin, die für Epikur unverzichtbarer Bestandteil der Lust ist. So meint er: „Wenn wir nun sagen, Lust sei höchstes Gut, dann meinen wir nicht die Lüste der Prasser und des Genießens, ... sondern das Freisein von körperlichem Schmerz und seelischer Aufregung.“ Das klingt sehr moderat und keinesfalls ungehemmt. Epikureer betonen also die Lust als Stifter der Glückseligkeit, bleiben aber ansonsten der aristotelischen Tradition der tugendhaften Mäßigung verhaftet. Das Betonen der Lust diente vornehmlich als Erkennungszeichen der eigenen philosophischen Schule zur Abgrenzung von konkurrierenden, öffnete den Diffamierungen aber Tür und Tor.

Stoiker als Meister der Unlustbekämpfung

Etwa zeitgleich wie die Epikureer traten deren schärfsten Kritiker, die Stoiker in Erscheinung. Die Stoiker werden mit nahezu unmenschlicher Lustfeindlichkeit assoziiert, die ihrem radikalen Eintreten für eine rigoros geistig gedeutete Tugend verschuldet sei. Auch dies trifft nicht ohne weiteres zu. Richtig ist, dass Stoikern die Tugend alles ist und sie wie bei Aristoteles weiterhin die bestmögliche Vernunftbetätigung darstellt. Nun kommt es den Stoikern aber nicht so sehr auf die profane Suche nach der richtigen Mitte beim Handeln an, sondern vielmehr auf die Beherrschung der Triebe. Diese werden als Urquell des Unglücks gesehen, denn ein ungezügelter Trieb arte immer im Affekt, also einer starken, Unlust bedeutenden Gefühlswallung aus. Unter Beherrschung der Triebe verstehen Stoiker nicht deren unnatürliche Unterdrückung, sondern deren Erkennen und Befolgen, ohne etwas hinzuzudenken, was den Trieb aufschaukeln würde. Dies gelänge am besten, wenn die Tugend alleine als wertvoll anerkannt würde, die Güter, auf welche die Triebe zielen, eben nicht. Trieb befolgen gilt Stoiker als naturgemäß leben und ein solches Leben bringe niemals Unglück, soweit Stoiker davon ausgehen, dass ein Trieb als ein erster emotionaler Impuls niemals schon Affektcharakter haben kann. Hier ist natürlich die Schwachstelle der stoischen Lehre, denn manche Schmerzen und Leiden lassen sich nie verleugnen und als Folge eines ungezügelten Triebes darstellen. Jedenfalls ist Unlustvermeidung der letztendliche Antrieb der Stoiker. Umgekehrt stellt für sie die Affektfreiheit nicht die angeprangerte Gefühlskälte dar, sondern einen Zustand moderater Gefühle wie die der Freundschaft, Vorsicht oder auch des Erfreut-Seins, die Stoiker Eupathien nennen.

Fazit

Aus welcher Warte man nun die Tugend auch betrachtet, ob man ihren Theoretiker Aristoteles, die sie nutzenden Hedonisten, oder die sie liebenden Stoiker näher in Augenschein nimmt, so steht sie im unmittelbaren Bezug zur Lust oder wenigstens zur Meidung von Unlust. Gemeinsames Prinzip ist das Streben nach Glück, das stets in einem Gefühlszustand gedeutet wird. Eine Besinnung auf die Tugend muss daher nicht mit Abtötung der Lust und schon mal gar nicht von Gefühlen einhergehen, sie kann dies ja nicht einmal, wenn man den antiken Glückslehren folgt. Die Tugend weist vielmehr den Weg zu einer beständigeren und moderateren Lust, die nicht so schnell wie beim Übermaß in Unlust umschlägt.


Verfasser: Dipl.-BW (FH) Michael Zabawa
Erschienen: November 2013